Um vorab etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Jeder, der in unserer heutigen Ellenbogen– wie Egogesellschaft selbstlos Zivilcourage ausübt, ist prinzipiell als Held anzusehen und verdient höchsten Respekt – darum soll es folgend auch gar nicht gehen. Vielmehr stellt sich die Frage, weshalb Person A für ihre Zivilcourage in einem unglaublichen Medienecho geehrt und honoriert wird, während Person B bei gleichem Szenario nicht einmal namentlich genannt wird? Beide Personen erlitten das gleiche Schicksal: sie wollten fremden Menschen in einer bedrohlichen Situation zu Hilfe eilen und bezahlten beide mit dem Leben. Die Personen heißen Tugce (23) und Joey (21). Beides junge Menschen, beide engagiert, beide kürzlich durch ihr Engagement zu Tode gekommen. Während man nun jedoch – sicherlich nicht unberechtigt – sogar eine Brücke nach Tugce benennen möchte, spricht niemand vom „Fall Joey“, so, als wäre dieser nicht weiter erwähnenswert oder gar von minderer Bedeutung.
Weshalb aber erfährt man von Joey nahezu nichts aus den Medien? Weil er ein paar Tage später starb, als die Tugce-Welle längst abgeebbt war und das Thema für die Gesellschaft „damit durch“ war? Ich hätte da ja eine andere, zugegeben sehr krasse, These: aufgrund ihrer unbestrittenen Attraktivität war Tugce das gefundene Fressen für die boulevardisierten Medien – eine hübsche junge Frau, die altruistisch handelt und dadurch zu Tode kommt; was ist dagegen schon ein – salopp formuliert – „durchschnittlicher Milchbubi“, von dem es ja nicht einmal hochauflösende Selfies in den sozialen Netzwerken zu finden gibt? Ich behaupte: es ging den dieses Thema bis aufs Mark ausquetschenden Medien nicht um die Tat an sich, sondern um die Ausschlachtung des Schicksals einer überdurchschnittlich attraktiven Frau. Heute, wo oft stark emotionalisierende Bilder die Schlagzeilen beherrschen, war Tugce mit ihren Porträtfotos nur ein Steigbügelhalter für „Bild“ und co, auf welchem solange geritten wurde, bis auch noch die letzte Klickzahl mitgenommen werden konnte.
Hier ein beileibe nicht vollständiger Auszug der Schlagzeilen-Aufmachung durch „Bild“.de – 23 Stück an der Zahl (ohne Updates):
Nachtrag 11. Dezember, „Bild“ kann es nicht lassen:
Nachtrag 12. Dezember:
Nachtrag 18. Dezember
(interessant ist, wie „Bild“ plötzlich das Gesicht verpixelt [verpixeln muss?])
Nachtrag 31. Dezember
„Bild“ ziert seine Werbung zur hauseigenen neuen Nachrichten-App „Buzz“ neben „Kims Glanzstück“ mit einer Schlagzeile über „Tugces Totschläger“ und fasst so unfreiwillig die Hauptthemen des Blattes zusammen – Sex und Gewalt:
Nachtrag 20. Januar 2015
Endlich ist nun auch das „letzte Rätsel ihrer Schicksalsnacht gelöst“:
Nachtrag 26. Januar 2015
„Bild“ rätselt weiter und fragt, ob denn „Tugces Totschläger schon nächste Woche frei“ komme:
Nachtrag 02. Februar 2015
Die Rätsel scheinen noch immer nicht vollständig gelöst – „Bild“ weiß jetzt aber, wie „Tugce wirklich starb“. Der Artikel ist wie schon die vorangegangen selbstverständlich nur für die bildungselitäre „Bild-Plus“-Nutzergruppe verfügbar:
Nachtrag 03.Februar 2015
Premiere: zum ersten Mal eine „Tugce“-„Nachricht“ ohne ihr Porträt zu verwenden.
Nachtrag 07. Februar 2015
„Bild“ gibt zu Protokoll, was es – wie ganz oben bei den bisherigen Schlagzeilen einsehbar – schon letztes Jahr zu Protokoll zu geben wusste:
Nachtrag 12. Februar 2015
The show must go on:
(Screenshot-Ausschnitt von „Bild.de“, kein Schlagzeilen-Bild)
Nachtrag 28.02.2015:
„Bild“ informiert, dass spätestens Ende April mit Neuigkeiten um den Tugce-Fall zu berichten ist – denn dann startet der Prozess. Absehbar, dass sich „Bild“ weitere Berichterstattung dazu auch vorher schon nicht nehmen lassen wird.
(Screenshot-Ausschnitt von „Bild.de“, kein Schlagzeilen-Bild)
Nachtrag 19.03.2015:
„Bild“-„Plus“-Leser erfahren ein Vierteljahr nach ihrem Tod von der Organspende Tugces.
Nachtrag 21.04.2015:
Nachtrag 23.04.2015:
Nachtrag 24.04.2015:
Nachtrag 27.04.2015:
Nachtrag 08.05.2015:
Nachtrag 22.05.2015:
Im Nachhinein sind wir immer schlauer – und „Bild“ ganz besonders.
Nachtrag 27.5.2015:
Keine einzige der rund 50 Titelbild-Schlagzeilen kommt ohne ihr Foto aus – emotionale Leserbindung at its best.
Nachtrag 03.06.2015:
Nachtrag 12.06.2015:
Nachtrag 15.06.2015:
Nachtrag 16.06.2015:
Nachtrag 17.06.2015:
Nachtrag 18.06.2015:
PS: Vielen Dank den honorierenden sowie vor allem den kritischen Kommentatoren für die Diskussionsbeiträge! Interessant, welch unterschiedliche Sichtweisen es zu geben scheint – während einige meine These als „logisch“ und „normal“ werten, empfinden sie andere als sehr gewagt und „krass“. Sofern die Authentizität gegeben ist, möchte ich an dieser Stelle auch mein tiefes Beileid an die Eltern von Joey aussprechen und mich für den Mut bedanken, in den Kommentaren Stellung zu nehmen. Der Medienhype um Tugce ist auch immer noch nicht vorbei; regelmäßig löst bspw. „Bild.de“ für uns „die letzten Rätsel der Schicksalsnacht“, wie hier im Blog stetig aktualisierend nachlesbar.